Survivalmagazin
Mittwoch, 22. November 2017
"Ohne die Erinnerung und die Verdinglichung, die aus der Erinnerung selbst entspringt (...) würde das lebendig Gehandelte, das gesprochene Wort, der gedachte Gedanke spurlos verschwinden, sobald der Akt des Handelns, Sprechens oder Denkens an sein Ende gekommen ist; es würde sein, als hätte es sie nie gegeben. Die verwandelnde Vergegenständlichung ist der Preis, den das Lebendige zahlt, um nur überhaupt in der Welt bleiben zu dürfen: und der Preis ist sehr hoch, da immer ein "toter Buchstabe" an die Stelle tritt, was einen flüchtigen Augenblick lang wirklich "lebendiger Geist" war."
- Hannah Arendt


Ich war wie immer sehr unentschlossen am Montag. Was sollte ich tun? Ihn wieder fragen, ob er mit kommt? Ihn auf dem Campus suchen?
Schließlich entschied ich mich dafür in die Bibliothek zu gehen und dort etwas für mein Studium (ja, ich studiere auch noch neben dem ganzen Gefühlskram) zu tun. von 12-16 Uhr hatte er, wie ich empirisch bewiesen hatte, ja eh Vorlesung. Also Arbeiten ohne Paranoia, er könnte jeden Moment an dem Bücherregal stehen, das neben meinem Arbeitsplatz ist.

Ach, ich will es nicht so spannend machen. Nachdem ich wirklich so 90 Minuten produktiv war, stand er an dem Bücherregal, das neben meinem Sitzplatz ist und stellte ein Buch hinein. Rein aus Reflex hatte ich den Kopf nach rechts gedreht, da ich eine Bewegung wahrgenommen hatte. Und da musste gerade Christoph stehen und so langsam ein Buch in das Regel befördern, dass ich glaubte in eine Slow-Motion Animation geraten zu sein. Er sah mich zumindest nicht an und ohne darüber nachzudenken, blickte ich wieder auf meinen Tisch, dann nach rechts, trank eine Schluck Wasser, stellte es wieder hin und nahm aus dem Augenwinkel wahr wie er ohne irgendein Wort zu sagen ging.

Dann hätte ich am liebsten angefangen zu weinen. Von jetzt auf gleich war mir so elend nach Heulen zu mute wie das letzte Mal im Kindergarten. Ich war traurig, dass er nicht "Hallo" gesagt hat, traurig weil ich nicht "Hallo" gesagt habe.
So ein Scheiß. Hätte ich doch irgendetwas gesagt. So dachte er wahrscheinlich ich hätte ihn mit Absicht ignoriert und die Konsequenz daraus war für ihn natürlich mich ebenfalls zu ignorieren. Was tun?
Zunächst ging ich auf die Toilette. Dann wieder am Platz.
Was nun?
Ich konnte mich jedenfalls nicht auf den Text konzentrieren, der vor mir lag. Natürlich Latein. Er hätte dieselbe Aufgabe haben können. Aber natürlich macht er lieber etwas "sinnvolles" und schwänzt dann die Vorlesung darin. Die wäre nämlich jetzt gerade. Arschloch. Ich würde ihm am liebsten den Text mit Wörterbuch auf den Tisch knallen an dem er sitzt und so etwas sagen wie "Wenn du schon deine Vorlesung schwänzt, dann mach wenigstens was vernünftiges." oder "Ich hasse es, wenn Talent verschwendet wird."
Irgendsowas jedenfalls.
Warum sollte ich es auch nicht tun?
Ich befand mich im Begriff aufzustehen, da meldete sich eine kleine Stimme in meinem Kopf. War das nicht wieder eine Affekthandlung? Sollte ich nicht noch einmal durchatmen und die Sache überdenken, statt wütend durch eine Bibliothek mit über 2000 Arbeitsplätzen zu renne, um einen Typen zu beleidigen, den ich eigentlich sehr mag?
Ich atmete einmal tief ein und aus, entschied, dass dies genug Bedenkzeit war und lief los.

Ich ging zuerst ein Stockwerk tiefer, um ein zweites Wörterbuch zu holen - schließlich brauchte ich ja eins, wenn ich ihm das andere gegeben hatte - dann wollte ich gerade die Treppe wieder hoch gehen, als ich ihn ganz unten im Foyer Richtung Treppe laufen sah.
Etwas nervös war ich da schon, aber Wut übertönt sowas ziemlich gut.
Und dann wartete ich. Zwei Treppen lang. Dann stand er vor mir und wirkte etwas überrascht. Aber er lächelte und sagte "Hallo" und ich auch und dann habe ich ihm das Buch in die Hand gedrückt mit dem Text und einen von diesen Sätzchen gesagt, aber nicht wütend, da ich in diesem Moment nicht mehr wütend war. Und dann sagte ich noch, dass ich wisse, dass er seine Vorlesung schwänzt und er meinte, dass er jetzt keine Vorlesung hat. (Hatte er doch, außer ich werde wirklich dement)
Aber dann war es wirklich schön. Wir redeten etwas an der Treppe, aber da es eine Bibliothek war mussten wir flüstern. Er erzählte mir, dass er gerade etwas für ein Seminar vorbereitete in dem es um lateinamerikanische Comics ging. Ich sagte, dass ich leider keine lat Comics kenne. Er meinte darauf, soetwas wie "Dann komm mit, ich zeige sie dir." und ich sagte "okay" und er sagte "das war eigentlich nur ein Scherz" und dann sagte ich "Dann sag sowas nicht" (Ich glaube das fand er lustig, ich fand es merkwürdig wirkend von mir, aber wenn ich über vergangene Gespräche nachdenke, finde ich immer alles merkwürdig wirkend). Und dann sind wir tatsächlich an seinen Platz gegangen. Er hatte immer noch das Wörterbuch und meinen Text in der Hand während er voraus lief.
Er zeigte mir den Comic und wir redeten etwas über Spanisch, dann über meinen Text. Und dann fragte ich ihn tatsächlich, ob er heute Abend wieder mitkommen wolle. Er meinte heute nicht, aber ein ander Mal. Und dann wollte ich ihn nicht länger aufhalten und umarmte ihn im Sitzen. (Diese Umarmung kommt wohl zu den Favoriten - Umarmungen im Sitzen sind eh viel besser)

Immer wenn ich diese bestimmte Art Zigarettenrauch rieche muss ich an ihn denken. Es ist die herbe Art, nicht der weiche Javanse Tabak, sondern der Rauch, der sich auf die Klamotten legt wie Ruß. Ich verbinde durchaus positive Gefühle mit diesem Geruch, dabei rauche ich nicht einmal. wenn ich an der Kippe ziehe wird mir schwindelig!

Zurück zur Geschichte. Ich sagte noch "Viel Spaß beim Fechten" und er "dir auch" "danke, aber ich fechte heute nicht" "beim Verbalfechten"
Und dann stellt ich meine Stuhl zurück (ich hatte mir einen rangeholt, da er an einem Einzelplatz saß) und nahm zum Abschied noch ein Übungsblatt von Wirtschaft in die Hand und sagte, er solle es verbrennen. Er lachte.

Immerhin kein "Man sieht sich".
Keine Abschiedsfloskel ist besser als eine schlechte Abschiedsfloskel.

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